Roaring Berlin
Für COMPANION nehmen uns der Autor und Journalist Boris und der Illustrator Robert mit auf eine Stadttour, inspiriert von den wilden Zwanzigern.
Das Berlin der 1920er-Jahre ist eine der schillerndsten Dekaden des vergangenen Jahrhunderts. Obwohl sich der Mythos der Wilden Zwanziger in Wahrheit gerade mal auf ein paar Jahre beschränkt, steht er wie kein zweiter für eine aufkommende moderne Lebenslust und ein aufregendes Nachtleben in der brodelnden Großstadt – und fasziniert bis in die Gegenwart. „Vielleicht weil diese Zeit Dinge hervorgebracht hat, die man heute noch absolut so stehen lassen kann“, sagt Boris Pofalla, der im November 2017 gemeinsam mit Robert Nippoldt im Taschen Verlag ein gigantisches illustriertes Buch zum Thema herausgebracht hat: „Es wird Nacht im Berlin der Wilden Zwanziger.“ Cabaret, Theater und Film, Kunst, Literatur und Architektur: Vieles wurde neu gedacht in der rasenden Zeit des Umbruchs, gebeutelt von den Nachwehen des Ersten Weltkriegs und im Angesicht der sich anberaumenden Wirtschaftskrise und späteren Naziherrschaft. Für COMPANION nehmen uns der Autor und Journalist Boris und der Illustrator Robert mit auf eine Stadttour, inspiriert von jenen Wilden Zwanzigern, die Bohemiens, Nachtschattengewächsen und Intellektuellen so viel Zerstreuung und künstlerische Energie boten. Natürlich führt sie uns ins Zentrum des damaligen Kultur- und Nachtlebens: einmal um den Kurfürstendamm.
Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche
Die Charlottenburger Gedächtniskirche am Breitscheidplatz zählt zu den bekanntesten Sehenswürdigkeiten der Hauptstadt. Unsere erste Station der District Tour haben Boris und Robert allerdings ausgesucht, „weil die Gegend um die Kirche herum während der 1920er-Jahre als Zentrum des Berliner Nachtlebens galt“, erzählt Robert. In den damals unzähligen Jazzclubs, Cafés, Kinos und Tanzlokalen der Nachbarschaft tummelte sich die Avantgarde, da-runter Persönlichkeiten wie Gottfried Benn, Else Lasker-Schüler und Egon Erwin Kisch. Mit der Revue „Bei uns um die Gedächtniskirche herum“ (1928) setzte Kabarettist und Komponist Friedrich Hollaender dem Ort sogar ein musikalisches Denkmal. Robert verweist auf seinen guten Freund Stephan Wuthe, „ein echter Experte, wenn es um die Geschichte jener Ära geht. Seine ‚Swingwalks‘ – musikalisch-historische Stadtführungen – seien jedem empfohlen.“ swingtime.de
Delphi Filmpalast
„Im richtigen Kino sitzt man nie im falschen Film“, sagt ein lachender Jan Rost, als uns der Co-Geschäftsführer des Delphi Filmpalast begrüßt. Ursprünglich als Tanzpalast eröffnet und direkt neben dem Theater des Westens gelegen, wurde das Gebäude im Zweiten Weltkrieg zerbombt und 1947 als Lichtspielhaus wiederaufgebaut. Zeitweise galt es als größtes Kino Deutschlands. „Im Delphi liefen ab den 50er-Jahren die großen amerikanischen Hollywoodstreifen“, erzählt Jan. Heute werden in dem prunkvollen Programmkinosaal mit den rot verkleideten Wänden und den bequemen blauen Samtsesseln vor allem europäische Arthausfilme gezeigt, darunter viele aus Deutschland – stilecht im Kolorit vergangener Tage. Boris und Robert fläzen sich in die erste Reihe auf der Empore, von wo aus der Blick auf die Leinwand am besten ist. delphi-filmpalast.de
Café Grosz
„Zeit für eine heiße Schokolade“, findet Robert. Dafür kommt nur das Café Grosz auf dem Kurfürstendamm infrage. Nachmittags gibt es in dem stuckverzierten Kaffeehaus und Restaurant nämlich einen „Afternoon Tea“ mit Häppchen und köstlichem Gebäck aus der eigenen Patisserie L’Oui. Das Grosz befindet sich im 1912 gebauten Haus Cumberland, das vom Kaiserlichen Waffen- und Munitionsbeschaffungsamt über ein Grand Hotel bis zur Oberpostdirektion schon viele Mieter beherbergte. Das genau 100 Jahre später eröffnete Café ist übrigens nach dem Berliner Künstler George Grosz benannt, der besonders für seine gesellschaftskritischen Karikaturen und Gemälde aus den 20er-Jahren berühmt wurde. Boris sagt: „Für mich ist Grosz eine der spannendsten Persönlichkeiten seiner Zeit. Deshalb haben wir ihm in unserem Buch auch ein Kapitel gewidmet.“ grosz-berlin.de
Taschen Berlin
Schräg gegenüber vom Café Grosz befindet sich der Berliner Flagship-store des Taschen-Verlags, der im November 2017 auch das gemeinsame Buch von Boris und Robert herausgebracht hat. Natürlich schlendern wir vorbei – Robert ist „total stolz“, das frisch gedruckte Buch dort in den Händen zu halten. Bis Ende März 2018 ist bei Taschen übrigens noch die begleitende Ausstellung „Es wird Nacht im Berlin der Wilden Zwanziger – kuratiert von Robert Nippoldt“ zu sehen. Ein Besuch in der Schlüterstraße lohnt sich allerdings immer. Weil Taschen sich auf schöne Bildbände unter anderem zu den Themen Mode, Musik, Kunst, Reisen und Fotografie spezialisiert hat, lässt es sich in der feinen Buchhandlung mit dunklen Holzregalen und dreieckig gekachelten Böden in royalen Sesseln fürstlich schmökern. taschen.com
Schaubühne
Auf zur Schaubühne am Lehniner Platz, wo eines der beliebtesten Theaterensembles der Stadt seit 1981 in einem von Erich Mendelsohn errichteten Gebäude residiert. Wie ein Dampfer ragt das Bauwerk am Kurfürstendamm empor. Schon 1928, als es noch das Kino Universum mit satten 1800 Sitzplätzen beherbergte, muss der Anblick beeindruckt haben. „Das besondere an der Architektur ist, dass die drei Spielstätten absolut flexibel umgebaut und zu einem gigantischen Saal verbunden werden können“, erzählt Charlotte Jaquet von der Schaubühne. Für Abwechslung sorgt auch das Programm selbst: Zeitgenössisches Theater wird als Dialog mit Kunst, Musik, Literatur oder Film verstanden. Video-Live-übertragungen oder Klanglabore sind hier auf den Bühne immer wieder willkommene Abwechslungen. schaubuehne.de
Le Petit Royal
Hätte es das Petit Royal nahe des Savignyplatzes im Berlin der Wilden Zwanziger bereits gegeben – es wäre der kulinarische Mittelpunkt im Leben vieler Künstler, Literaten und schillernder Gestalten des damaligen Nachtlebens gewesen. In den eklektischen Räumen der 2016 eröffneten französisch angehauchten Dependance des Gastro-Imperiums von Grill Royal fühlt sich heute die Berliner Bourgeoisie genauso wohl wie ein internationales Publikum. Auch Boris zählt es zu seinen liebsten Restaurants. Geschätzt wird die gehobene Küche für ihre französischen Klassiker wie Bouillabaisse oder Coq au Vin, die hier besonders modern verstanden werden. Gebratener Steinbutt mit Sardellen, Kapernspinat und Beurre Rouge oder ein exzentrischer Salade Maquereaux mit Grapefruit, Avocado und Meerrettichdressing sind schnell bestellt. lepetitroyal.de
Wintergarten Varieté
„Um die 40 Theater und 170 Varietés gibt es in den 1920er-Jahren in Berlin. Wer unter dem Sternenhimmel im berühmten Wintergarten auftreten durfte, hatte es geschafft“, erzählt Boris. 1880 als Teil des Central Hotels an der Friedrichstraße eröffnet, gelangte das Varieté zu Weltruhm, wurde während des Zweiten Weltkriegs allerdings zerstört. Seit 1992 knüpft das Wintergarten Varieté in der Potsdamer Straße an die Tradition an – verständlich, dass Boris und Robert dieser neuen Bühne mit altem Namen einen Besuch abstatten wollen. Zum Programm aus Show, Musik, Tanz und Akrobatik wird im purpurnen 20er-Jahre-Setting auf Wunsch sogar ein Drei-Gänge-Menü serviert. Und auch den künstlichen Sternenhimmel von damals gibt es heute selbstverständlich wieder. wintergarten-berlin.de
Buchtipp
Robert Nippoldt, Boris Pofalla: “Es wird Nacht im Berlin der Wilden Zwanziger” TASCHEN, 224 pages, Price: 49.99 EUR