Spaces of Transition
Menschen im Hotel sind eine sonderbare Spezies – und bester Stoff für Romane, weiß unser Kolumnist Rainer Moritz.
Als der kränkelnde Schriftsteller Marcel Proust im Sommer 1907 kein Zutrauen mehr in seine künstlerische Kraft besaß, beschloss er, sich kurzerhand in die Normandie aufzumachen, in das neu eröffnete Grand Hôtel de Cabourg. Proust hielt es in seiner Pariser Wohnung nicht mehr aus und hoffte, durch die Hotelannehmlichkeiten an der normannischen Küste seine Gesundheit zu stärken und vor allem mit seinem großen Romanprojekt „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ voranzukommen. Seine Rechnung ging auf: Acht Jahre lang kam er Sommer für Sommer nach Cabourg, unternahm Ausflüge, genoss die Ruhe seines Hotelzimmers, verspeiste goldgelbe Seezungen und besuchte das Spielkasino. Wie Proust erging und ergeht es vielen seiner Kollegen. Sie fanden in der Abgeschiedenheit ihrer Suiten oder im Trubel an der Hotelbar neuen Lebensmut, begegneten Charakteren, die zu Romanfiguren werden sollten, oder lernten an der Rezeption oder im Restaurant die Liebe ihres Lebens kennen.
Wer Tage im Hotel verbringt, lässt sich auf das Ungewisse ein. Gibt sein vertrautes Ambiente auf, kommt notgedrungen mit Menschen in Kontakt, die nichts mit der Alltagswelt zu tun haben – und verbringt Zeit in einem Provisorium, außerhalb der Zeit gewissermaßen. Wie in Kaffeehäusern, wie auf Bahnhöfen und Flughäfen lassen sich in den Zimmern oder an den Bars eines Hotels hochinteressante Beobachtungen machen, werden die flüchtigen Begegnungen mit Menschen unterschiedlichster Couleur zum Anlass, sich (Lebens-)Geschichten auszudenken, aus denen wiederum neue Romane und Erzählungen entstehen können – wie es der mit Grandhotels bestens vertraute Thomas Mann in „Tod in Venedig“ oder „Felix Krull“ praktiziert hat.Da sitzen wir morgens im Frühstücksraum, haben uns mit Obstsalat, Croissants und Rührei eingedeckt, schauen hinüber zu den anderen Tischen und wundern uns plötzlich. Wer mag dieser unruhige Mann im Businessanzug sein, der alle zehn Sekunden auf sein Smartphone starrt? Worauf wartet er? Auf die Bestätigung eines großen Deals, der seine Karriere voranbringen wird? Oder darauf, dass sich die Frau, der er gestern im Fahrstuhl seine Handynummer gab, endlich bei ihm meldet? Und was hat es mit diesem Paar in den besten Jahren auf sich, das sich keines Blickes würdigt und in die Morgenzeitungen vertieft ist? Geht da eine Beziehung zu Ende? Oder tun die beiden aus Gewohnheit nur, was sie seit vielen Jahren in Frühstücksräumen tun?
Das alles wissen wir nicht und wir werden es vielleicht nie erfahren. Und doch führen Beobachtungen dieser Art auch immer wieder zur Selbstreflexion.Hotels sind Orte des Übergangs. Sie erlauben es, eine Auszeit zu nehmen, nicht im tagtäglichen Trott zu verharren. Und weil sie uns Unvertrautes bieten, stimulieren sie unsere kreativen Energien. „Menschen im Hotel“ – um den berühmten, 1929 erschienenen Roman Vicky Baums zu zitieren – sind Menschen, die offen sind für neue Erfahrungen. Und, wenn die Sterne günstig stehen, diese Erfahrungen dazu nutzen, zu dichten, zu zeichnen, Drehbuchideen zu entwickeln und vielleicht sogar Texte zu schreiben, die von Menschen im Hotel handeln. Wie Leonard Cohen, der in seinem Song „Chelsea Hotel #2“ das gleichnamige Künstlerhotel in New York unsterblich machte. Manchem kreativen Geist gefällt es in solcher Atmosphäre gar so gut, dass er vom Stammgast zum Dauergast wird, der sich nur noch in den Lounges und Séparées eines Hotels als richtiger Mensch fühlt. Wie der österreichische Schauspieler Ernst Waldbrunn etwa, der einleuchtend begründete, warum er das Hotel Sacher in Wien gar nicht mehr verlassen wollte: „Ich kann mir allein net amal an Knopf annähen; dort gibt’s die besten Stubenmädchen, die besten Köche, die besten Portiers. Im Armenhaus kann a jeder z’grund gehen. Aber im Sacher?“ Und wahrscheinlich hat das Hotel Sacher dazu beigetragen, dass Ernst Waldbrunn kreativer denn je seine Rollen zu interpretieren verstand. Denn Hotels gleichen, wenn man Marcel Proust glaubt, ohnehin einer „Theaterbühne“, auf der jeder seine Rolle spielt.
Rainer Moritz ist Literaturkritiker und leitet seit 2005 das Literaturhaus Hamburg. Letztes Jahr veröffentlichte er zusammen mit dem Fotografen Andreas Licht den Band „Der schönste Aufenthalt der Welt. Dichter im Hotel“ (Knesebeck Verlag).