Im Zweifel für die Anarchie

Tim Renner ist der lebende Rundumschlag des Musik- und Kulturbusiness: Als Manager bei Universal entdeckte er Bands wie Rammstein und setzte sich zwischen 2014 und 2016 als Staatssekretär für Kulturelle Angelegenheiten vor allem für eine Digitalisierungsoffensive ein.

Außerdem arbeitete er als Musikjournalist und Radiomoderator, gründete mit Motor Entertainment sein eigenes Medien-Start-Up, unterrichtet an der Popakademie Mannheim und schreibt Bücher zur Branche. Es gibt also kaum jemanden, mit dem man besser über Gegenwart und Zukunft der Popkultur diskutieren kann. Ein Gespräch über jugendlichen Anarchismus, die Weiten des ungeregelten Internets und die Zukunft der Musikbranche.

COMPANION: Egal welches Amt Du in der Kultur- und Musikszene innehast – Dein Hauptanliegen scheint immer zu sein, unkontrollierbaren Jugend- und Subkulturen genug Freiheit einzuräumen.

Tim Renner: Absolut! Denn was ist der Kern von Popmusik? Eine Revolte! Der Versuch der Jugend, eine eigene Sprache, einen eigenen Code zu finden. Der soll von der vorgehenden Generation nicht verstanden werden und diese gleichzeitig in ihren Grundwerten angreifen. Das anarchische Element gilt es unbedingt zu bewahren, denn es fördert Neuerung. Das ist aber heutzutage schwerer denn je.

Inwiefern?

Erstmal hast du eine Generation, die mit Popmusik sozialisiert wurde –  meine Generation. Das bedeutet, dass wir uns die Codes unserer Kinder unwahrscheinlich schnell aneignen können. Wir haben halt auch das Internet: Jeden kleinsten Trend, jede Bewegung kann ich genauso schnell mit absorbieren wie die Kids. Ich bin so schnell im Thema Cloud-Rap drin, dass meine Töchter nachhause gehen können (lacht). Insofern ist das gerade ein sehr virulenter Kampf und einer, der sehr schwer zu führen ist. 

Meinst Du, die Allgegenwärtigkeit der Popkultur wirkt sich auch positiv aus?

Sicher. Durch diese popkulturelle Durchsetzung der Gesellschaft taucht der anarchische Moment überall auf.

Obwohl das gewissen Regeln unterliegt.

Klar. Früher hattest du die 10-Jahres-Regel für die Lebenszeit eines Trends: Es ist sauber belegbar, wie in den ersten fünf Jahren ein Trend als Reaktion auf Vorangegangenes entsteht. In den darauffolgenden zwei Jahren wird das fürs interessierte Publikum sichtbar und erreicht danach schließlich seinen absoluten wirtschaftlichen Durchbruch, infolge dessen der Trend dann etwa drei Jahre lang ausgewrungen wird, bis es keiner mehr hören oder sehen kann. Hier wird dann auch die nächste Strömung eingeläutet, als Reaktion auf das was allgegenwärtig ist. Heute hat der Trend nicht mehr ganz so viel Zeit, sich zu entwickeln und das Auswringen passiert früher und intensiver. Dadurch ist es popkulturellen Marken möglich, schnell anarchische Elemente wohlpoliert zu präsentieren. Aber das ist natürlich ein Seiltanz.

Das EU-Parlament hat kürzlich über eine Urheberrechtsreform abgestimmt. Es geht darum, Inhalte auf Internet-Plattformen zu regulieren. Es wurde für Paragraph 13 gestimmt, durch den etwa YouTube gezwungen werden soll, den Upload von geschütztem Material nicht ohne Weiteres zu ermöglichen. Du bist dagegen, weil Du die florierenden Subkulturen und kleine Kreative gefährdet siehst. 

Genau. Die Reform, für die abgestimmt wurde, wirkt zugunsten der analogen Verwerte-Industrie – das halte ich für fatal. Wir erhalten somit bewegungslose Dinosaurier, wohingegen wir die neue Spezies, nämlich selbstständige Künstler, Musiker oder Schreiber unglaublich behindern. Das, was ich für eigentlich dringend notwendig halte, wäre eine Rechtsprechung, die sich an den Kreativen orientiert und all die Freelancer und Vordenker schützt. Das wäre der Trick – und nicht die alten Riesen noch größer machen.

Schaut man sich vor allem den politischen Diskurs zum Umgang mit dem Internet an, hat man immer noch das Gefühl, als wüsste niemand so richtig, was wir mit dem Koloss Internet eigentlich machen sollen. Als gäbe es das World Wide Web erst seit Kurzem.

Ich sehe das Hauptproblem darin, dass die Politik sich immer noch auf einer gewissen Abstraktionsebene mit dem Internet auseinandersetzt. Es ist ein riesiger Unterschied, ob ich etwas emotional verstehe, oder ob ich es mir nur rational erschließe. Wenn ich selbst kaum mit Social Media umgehe, mich dort selbst kaum exponiere, nicht weiß, was dort passiert, kann ich mir zwar viel dazu anlesen. Aber ich werde dazu dennoch niemals einen wirklichen Zugang haben – und auch nicht in der Lage sein, auf die richtigen Knöpfe zu drücken.

Was ist denn Deine Prognose zum Musik-Business: Wie werden wir in Zukunft mit Musik umgehen?

Ich denke, dass das Bedürfnis größer wird, immer stärker selbst in die Musik einzugreifen. Früher hätte ich als Musikinteressierter versucht, mit einer guten Playlist zu beeindrucken. Heute kann ich das eher durch einen eigenen Mix, der besonders raffiniert ist. Es geht immer mehr darum, sich Musik selbst anzueignen. Dieser Trend zeichnet sich auch in China ab – auf dem Markt, der derzeit am schnellsten wächst. Dort ist die App ”We Sing” auf Erfolgskurs. Dabei handelt es sich um einen Karaoke-Service, den die meisten Chinesen auf dem Handy haben. Und Karaoke ist ja auch nur wieder eine Möglichkeit, sich Musik anzueignen und nicht mehr nur rezipieren. 

Gibt es jemanden aus dem aktuellen Pop-Geschehen, der oder die Dich beeindruckt?

Da gibt es einige – momentan vor allem Billie Eilish. Die ist zwar schon im Mainstream angekommen. Aber sie ist sehr authentisch; sehr gut gemachte Musik und eine absolut neue Strömung im Pop. Das Ganze wirkt auch tatsächlich immer noch wie Subkultur, dabei steckt Universal dahinter – das Riesen-Label. Wenn die das Authentische komplett inszeniert haben, muss man sagen: Chapeau – gut gemacht! Oder aber sie waren intelligent genug, ihr und vor allem auch ihrem Bruder, der als großartiger Produzent maßgeblich den Sound Eilishs beeinflußt, einfach alle Freiheiten zu lassen. Und da sind wir ja wieder beim Kernpunkt unseres Gesprächs: Regelung und Ermöglichung der jugendlichen Anarchie.

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