Diving into The Forest

Natur, Achtsamkeit, Entschleunigung, Meditation: Shinrin-yoku, das sogenannte Waldbaden, ist in Japan eine anerkannte Therapie - welche im Zuge einer generellen Mindfulnesswelle jetzt als Trend zu uns herüber schwappt. Was steckt dahinter? Wird da wirklich gebadet?

Gemeinsam mit unseren Guides, den Partnern Carlos Ponte und Emma Wisser, hat sich COMPANION aufgemacht in das Mangfalltal unweit von München, um sich dem Phänomen anzunähern. Zwischen Bäumen und Stöckern haben wir nicht nur etwas über die heilende Wirkung des Waldes gelernt, sondern auch über uns.

Dieser Dezembertag fühlt sich gar nicht an wie ein Dezembertag. Eher wie einer der ersten, zarten Frühlingstage: Die Luft ist klar, das Wetter mild, die Sonne scheint durch die Wipfel. Hier, im oberen Mangfalltal in Bayern, ist der Wald noch erstaunlich grün. Im Wassereinzugsgebiet Münchens gibt es kaum Forstwirtschaft, der Wald wird weitgehend sich selbst überlassen. Deshalb sieht er so ursprünglich aus. So, wie ihn die deutschen Frühromantiker erlebten, die den Wald als Ort der Sehnsucht und Emotionen entdeckten.

Wir sind gekommen, um den Wald mit allen Sinnen zu erleben. Uns selbst ein Stück näher zu kommen. Shinrin-yoku heißt diese Methode aus Japan: Baden im Wald. „Im übertragenen Sinne bedeutet das: den Wald aufnehmen, genießen, sich aktiv mit der Natur, den Bäumen, dem Wind, dem Licht, dem Boden in Beziehung zu setzen“, sagt Emma Wisser. Zusammen mit ihrem Partner Carlos Ponte führt sie uns durch den Wald. In Japan und den USA ist das Waldbad eine staatlich anerkannte Therapie – hierzulande ist Shinrin-yoku noch weitgehend unbekannt. Wird das ein Spaziergang? Wird das anstrengend? „Ein Waldbad hat nichts mit Sport zu tun. Es ist auch kein Spaziergang. Eher ein Aufenthalt. Wir sind im Wald, mit dem Wald, und können uns überraschen lassen, was passiert. Wie es uns geht und wie wir uns fühlen, das ist sehr individuell.“

Shinrin-yoku wurde Anfang der Achtzigerjahre vom japanischen Landwirtschaftsministerium eingeführt. Eine Marketingmaßnahme: Die Menschen sollten den Wald wieder schätzen lernen, erkennen, dass er ihnen guttut und nicht nur wirtschaftliche Ressource ist. Mit Millionenbeträgen förderte das Ministerium die Erforschung des Waldes und seines medizinischen Nutzens. Bald eröffnete das erste Zentrum für Waldtherapie, mittlerweile können Ärzte an japanischen Universitäten sogar ihren Facharzt in Waldmedizin machen. Und auch in Deutschland, von dessen Fläche knapp ein Drittel mit Wald bedeckt ist und das so zum baumreichsten Land der Europäischen Union wird, entstehen sogenannte Heilwälder, vor allem im forstreichen Mecklenburg-Vorpommern. Der Wald soll nicht nur helfen, seelische Leiden wie Depressionen zu lindern, sondern auch körperliche Beschwerden verringern.

Wir tauchen also ein in diesen Wald vor den Toren Münchens. Seit zwei Jahren bieten Carlos und Emma diese Touren an, im Sommer zweimal die Woche, im Winter je Nachfrage. Emma und Carlos haben sich über das Meditieren kennengelernt, genauer: über eine App. Carlos, der gebürtig aus Argentinien kommt, hatte Jahrzehnte als Experte für IT-Forensik in Kanada gearbeitet, sieben Tage die Woche. „I had no life left“, sagt Carlos – also fing er an zu meditieren. Über eine Meditations-App konnte er auch mit Menschen kommunizieren. Immer wieder tauchte das Bild von Emma auf, die in München eine Praxis für Achtsamkeit und Selbstmitgefühl führt. Carlos und Emma kamen ins Gespräch, sie telefonierten, sie verabredeten sich auf Skype zum gemeinsamen Kochen. Als sie feststellen, dass sie am selben Tag Geburtstag haben, verkaufte Carlos sein Haus in Calgary und zog ins bayerische Weyarn. „We decided to work together on mindfulness, with a holiday-vacation component. European vacation with a mindfulness twist. Here we have space, peace, and nature around us“, sagt Carlos.

Bevor wir uns auf den Weg machen, stärken wir uns mit einer Minestrone, die er gekocht hat. Vom Haus der beiden aus laufen wir eine halbe Stunde, erst über Felder, dann durch den Wald. An einer kleinen Wasserstelle machen wir Halt, dehnen uns, machen Qigong-Übungen. Carlos erzählt, dass sich ein halber Liter Luft in der Lunge befindet, der bei normaler Atmung nur langsam ausgetauscht wird. „So now let’s get rid of this Munich air!“ Wir atmen tief aus, tief ein.

Wer den Wald erfahren will, muss seinen Geist öffnen, die Zweifel beiseite schieben, sich auf die Natur einlassen. „Es geht auch darum, sich einer Qualität des Waldes bewusst zu werden“, sagt Emma. „Er stellt keine Bedingungen. Er heißt jeden willkommen. Wie wäre es, wenn wir selbst zu uns wären, wie der Wald zu uns ist?“ Zwischen zwei Bäumen hält Carlos inne. Hier, sagt er, liege das Tor in eine andere Welt: Eine Welt, in der der Geist sich auf das Wahrnehmen des Waldes konzentriere, auf den gegenwärtigen Moment. Auf das Knacken der Äste unter dem feucht-federnden Laub und auf die kleinen Kleeblätter, die tapfer ihre Köpfe empor recken. Jeder soll für einige Minuten den Wald erkunden. „Introduce yourself to the forest“, sagt Carlos. „Let nature back into you. Disconnect.“

Wir erleben den Wald wie Kinder: streichen mit unseren Händen über Rinde und feuchtes, strahlend grünes Moos. Atmen die klare Luft, beobachten, wie sich die Wipfel der Bäume im Wind wiegen. In der Ferne hört man die Mangfall plätschern, die Augen erkunden die vielen Farben, in denen der Winterwald selbst jetzt noch strahlt: Rostrot, Purpur, Grün, Gelb. Hektik und Getriebenheit fallen ab, „nur spüren und da sein“, sagt Emma. „Und keine Scheu: das ist kein Schweigemarsch, auch wenn es Momente gibt, in denen wir nicht reden.“ Zum Beispiel, als wir uns dem Ufer nähern, jeder sich einen Ast sucht und alle Sorgen auf ihn projiziert. Dann werfen wir die Äste ins Wasser, lassen los von schlechten Gedanken, nur für diesen Tag. „Es ist erstaunlich, aber oft entsteht dabei ein Gefühl von Gemeinschaft zwischen den Teilnehmern“, sagt Carlos. Danach waschen wir Hände und Gesicht im eiskalten Wasser.

Carlos erzählt, dass sie mal eine Familie aus Brooklyn zu Besuch hatten mit einer siebenjährigen Tochter, die zuhause nie mehr als ein paar Meter läuft. Die Eltern hatten resigniert, Carlos dachte: „Schauen wir einfach, wie weit wir es schaffen.“ Das Kind erkundete gebannt den Wald, es lief den ganzen Pfad, sechs Kilometer, ohne einmal zu murren. Die Eltern verstanden die Welt nicht mehr. Was macht dieser Wald? Warum entschleunigt er uns? Eine Reise zurück zu den Ursprüngen der Menschheit?

Auf der ganzen Welt widmen sich Wissenschaftler sowohl den psychologischen als auch den physiologischen Folgen von Shinrin-yoku. Die Forschungen begannen in den Achtzigerjahren: Der Biologe Edward O. Wilson stellte die Biophiliehypothese auf, die die Liebe des Menschen zum Lebendigen beschreibt, das uns umgibt. Es sei Teil unserer DNA, Ergebnis eines Jahrmillionen alten Evolutionsprozesses. Der schwedische Wissenschaftler Roger Ulrich fand heraus, dass Menschen im Krankenhaus schneller genesen, wenn Bäume vor dem Fenster sehen. Und der japanische Forscher Qing Li, der in Dutzenden Studien die heilende Wirkung des Waldes untersuchte, fand heraus, dass Blutdruck, Cortisolspiegel (Stresshormone) und Puls schon nach einer Stunde im Wald merklich sinken.

In Japan gilt Waldluft schon lange als lebensverlängernd. Tatsächlich schützen Waldspaziergänge unser Herz-Kreislauf-System und stärken das Immunsystem. Forscher der Nippon Medical School haben herausgefunden, dass die Zahl der weißen Blutkörperchen nach einem mehrstündigen Aufenthalt im Wald um bis zu 50 Prozent steigt. Sie bekämpfen nicht nur Keime, sondern beugen auch Krebs vor. Qing Li führt das auf Terpene zurück, die Botenstoffe der Bäume. Sie nutzen diese flüchtigen organischen Verbindungen, sogenannte Phytonzide, zur Abwehr von Schädlingen und Krankheiten. In Deutschland untersuchen Wissenschaftler nun, ob hier die bewirtschafteten Wälder mit einem wesentlich anderen Baumbestand als in Japan – Eichen und Buchen statt Zedern und Lärchen – eine ähnliche Wirkung erzielen können.

Carlos gräbt mit seinen Händen im nassen Laub. Er hält es den Teilnehmern unter die Nase. Alle sind sich einig, dass es fantastisch riecht – auch wenn niemand beschreiben kann, warum. Es ist dieser Geruch nach frischem Waldboden. Sind es die Botenstoffe? Erinnerungen an glückliche Kindheitstage? Während das Einatmen von Phytonziden erwiesenermaßen ein Gefühl der Ruhe auslöst, gehen manche Wissenschaftler davon aus, dass die Duftmuster aus Terpenen, ätherischen Ölen und feuchter Erde uns primär an schöne Erlebnisse erinnern. Spaziergänge im Wald. Pilzesammeln mit der Familie. Ausflüge mit Freunden.

In unseren drei Stunden im Wald geht es darum, die Natur mit allen Sinnen zu erfahren. Symbole zu entdecken, die Sinnbild der eigenen Geschichte sind. An einer Waldlichtung machen wir halt. Die Sonne scheint auf das frische Moos, die Szene wirkt so perfekt, als stünden wir vor einem Gemälde. Wir schließen die Augen und konzentrieren uns auf die restlichen Sinne. Spüren den Wald, hören den Wald, riechen den Wald, schmecken den Wald. Mit einer wärmenden Tasse aus Fichtennadeltee machen wir uns auf die Suche nach einem Baum, der uns gefällt. „Tea with a tree“ nennt Emma das: Ob wir den Baum umarmen, mit ihm reden, ihn nur anschauen, uns anlehnen, ist ganz uns selbst überlassen.

„We are trying to find a balance between an academic and an esoteric approach. Mindfulness enhances the effects of the forest. It’s humbling to see that we’re making a difference in people’s lives, one at a time. It is rewarding, and a big responsibility.” Carlos ist gerade aus Japan zurückgekommen, wo er sich mit dem renommierten Forscher Yoshifumi Myazaki über Shinrin-yoku ausgetauscht hat und auch den Nationalen Erholungswald von Akasawa besucht hat, der jedes Jahr von etwa fünf Millionen Japanern aufgesucht wird. In Japan ist der Wald tief in Geschichte und Mythologie verwurzelt.

Diese Aufmerksamkeit für die Natur hilft nicht nur dem Geist, sondern auch dem persönlichen Wachstum. Carlos wird uns später noch eine Handreichung senden, wie wir Shinrin-yoku auch im Alltag weiterleben können, in der grünen Lunge der Stadt, um etwas Abstand zu bekommen vom Rationalismus, Hedonismus und Materialismus des urbanen Lebens. „99,9 Prozent der Zeit seiner Existenz hat der Mensch in der Natur gelebt“, sagt Emma. Auch wenn jedem Menschen in Deutschland prozentual gesehen rund 1300 Quadratmeter Wald zur Verfügung stehen: die wenigsten machen Gebrauch davon. „We are all part of nature, even if we don’t feel that way“, sagt Carlos, ehe wir uns vom Wald verabschieden. “This is not only a forest. This is home.”

universe-mindfulness.com

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