Wann, wenn nicht jetzt?
Seit 19 Jahren betreiben die Berliner Elektropunks von Egotronic musikalischen Hedonismus, der zunehmend auch als politischer Aufschrei verstanden werden kann. Ihr neues Album “Ihr seid doch auch nicht besser” ist ein Höhepunkt dieser Entwicklung. Über die wegbrechende politische Mitte und die Notwendigkeit, neue Bündnisse einzugehen.
Hämmernder Punk, der einem im Stakkato den Bass um die Ohren haut, die Drums treten nach, während im Hintergrund die Elektronik brodelt und Sänger Torsun Burchkard aggressiv seine Lyrics ins Mikro bellt — Egotronic klingen ein bisschen so, als hätten die Sex Pistols eine Fortbildung am DJ-Pult gemacht. Nach neun Alben Popkultur ist die Berliner Band eine feste Instanz der deutschen Musikszene geworden. Die Schlagrichtung: Immer skeptisch, immer systemkritisch, immer bereit, auch die unbequemen Fragen zu stellen.
Ihrem Sound sind Egotronic seit ihrer Gründung genauso treu geblieben, wie ihrem politischen Kampfgeist. Wobei: der hat sich, parallel zur politischen Lage der Welt, eher noch intensiviert. Auf ihrem letzten Album „Keine Argumente“ (2017) warnen Egotronic so bereits unverblümt vor dem Paradigmenwechsel: Wenn rechte Tendenzen stark und lange genug an der Tagesordnung sind, wird ihnen gegenüber irgendwann eine gewisse Gleichgültigkeit an den Tag gelegt. Und genau das empfindet Torsun als gefährlichste Entwicklung der Gegenwart – und zwar nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa.
Die unprätentiösen, zackigen Akkorde und die peitschende Elektronik sind dabei nicht nur der passendste Hintergrund, sondern Next-Level-Punk. Dank der eingängigen Refrains werden die polarisierenden Aussagen dennoch beinahe spielerisch an die Hörenden weitergegeben: „Du findest uns ganz geil, fühlst trotzdem national, du kannst mich mal, ich will mit dir nicht sein“, heißt es in „Tolerante Nazis“ etwa.
Torsun sitzt auf den Treppen vor einem hipstrigen Berliner Café im Innenhof: Es ist etwas schmuddelig, Graffitis prangen in leuchtenden Farben an den Wänden, in die wiederum große weiße Fenster eingelassen sind. Sie geben den Blick auf helle Agenturräume frei, es gibt Parkplätze für zu große SUVs. Deutlicher könnten die Kontraste der Stadt nicht zum Ausdruck kommen: In Berlin trifft halt vieles aufeinander, Kapitalismus, Kreativität, Kontrollverlust, die Gentrifizierung schreitet voran, die Destruktion ebenso. Vor Jahren noch waren Egotronic so etwas wie die Ritter des Spaßes, die das Morgen Vergessen machen. Immer schon links, vor allem aber dazu bereit, konservative Lebensentwürfe abzulehnen. Heute ist das ein bisschen in den Hintergrund geraten. Torsun und seine Männer haben wichtigere Dinge zu tun.
Ihr neues Album ist deshalb eine dezidierte Momentaufnahme dessen geworden, was in Deutschland gerade vor sich geht. Die Platte thematisiert die Aushöhlung des Begriffs „politische Mitte“. So gab es etwa Anfang des Jahres einen landesweiten Skandal, als Bilder auf den Sozialen Medien auftauchten, die einflussreiche Medienvertreter, Journalisten und Publizisten auf einer prestigeträchtigen Geburtstagsfeier zeigten. Sie feierten gemeinsam neben bekannten und bekennenden Rechtsextremisten. Für Torsun ist die Angelegenheit ein deutliches Zeichen dafür, dass die Grenzen verwischen: „Man feierte auf dieser Party gemeinsam, stramme Nazis neben allen anderen. Das zeigt am Ende nur eines: die gesellschaftliche Akzeptanz für Rechtsradikalismus“, sagt er. Als die Bilder veröffentlicht wurden, sei für Torsun etwas gekippt. Plötzlich gab es einen konkreten Beweis dafür, dass Rechtsradikalität in der Mitte angekommen ist. Das Artwork des neuen Albums stellt eines der damals veröffentlichten Bilder nach – inklusive Instagram-Look und Hashtags.
Das Problem ist jedoch nicht nur ein deutsches: Ganz Europa hat sich verändert. „Seit der sogenannten Flüchtlingskrise merkt man den Rechtsradikalismus stärker denn je zuvor,“ sagt Torsun. Die rechtspopulistischen AFD will seit ihrer Gründung 2013 rassistische Prämissen salonfähig machen, mit ihrem Einzug in den Deutschen Bundestag 2017 propagiert sie ihre kruden Ideen auf höchster bundespolitischer Ebene. Die Partei hat seit Jahren Zulauf aus unterschiedlichsten gesellschaftlichen Schichten. Ähnliche Entwicklungen gibt es auch in Frankreich: Bei den Präsidentschaftswahlen 2017 galt Marine Le Pen mit ihrem „Front National“ als ernsthafte Konkurrentin für Emmanuel Macron. In Polen, Italien und Ungarn regieren rechte Parteien bereits.
Für Egotronic allerdings sind nicht nur jene ein Problem, die sich offenkundig zum institutionalisierten Rechtskurs bekennen: „Die neue Rechte wirkt“, sagt Torsun. „Durch den permanenten Druck von rechts diskutieren wir alle mittlerweile auf einer Ebene, die es so vor Jahren noch nicht gegeben hat.“ Plötzlich werde öffentlich darüber diskutiert, ob die Seenotrettung von Geflüchteten durchgeführt werden solle oder nicht. „Als ob es darauf verschiedene Antworten geben könnte!“, sagt Torsun. Fassungslosigkeit legt sich auf seine Stimme. „Menschen in Not ist Hilfe zu leisten, alles andere ist unmenschlich.“
Torsun kann es nicht verstehen, warum die Menschen nicht längst auf die Straße gehen, öfter und stärker als je zuvor, um gegen Missstände zu demonstrieren. Für ihn ist Schweigen längst keine Option mehr. Im Rahmen der Möglichkeiten, sollte sich jeder und jede positionieren und engagieren, findet er. „Wann, wenn nicht jetzt?“, fragt Torsun. „Vor allem die deutsche Geschichte zeigt doch: Wenn man lange genug wartet und schweigt, dann darf man irgendwann nichts mehr sagen. Dann haben wir alle in ganz Europa bald nicht mehr die Möglichkeit, uns frei zu äußern.“ Egotronic jedenfalls machen so eine Musik, die eine deutliche Sprache spricht: Keine Toleranz für Nazis und rechte Ideologien. In der zweiten Hälfte dieses Jahres gehen sie mit ihrer neuen Platte auf ausgedehnte Tournee. „Dahin kommen immer Menschen, die unsere Ansichten teilen,“ sagt Torsun und lächelt. Immerhin.
Torsun freut sich auf die kleinen Clubs, vollgestopft mit guten Leuten, wie er sagt. Gemeinsam wird der Aufstand gefeiert, die Rebellion gegen Unmenschlichkeit, Intoleranz und Fremdenhass. Zusammen, so Torsun, kann man sich gegenseitig Energie geben für die täglichen Kämpfe da draußen. Und wer weiß, wen man auf einem solchen Konzert alles erreicht. Wer danach vielleicht rausgeht in diese schwierige Welt, um sie wenigstens ein kleines bisschen besser zu machen. Torsun jedenfalls glaubt, dass es wieder besser werden kann. „Es muss“, sagt er.
Hört in die Playlist The Pogo and Politics Playlist: